Ist es schon Zeit? (Teil 2) 

Die Testergebnisse lagen auf dem Tisch und eine freundliche Dame sass da und wartete auf mich. Es war dieselbe Frau, die den Test mit mir durchgeführt hatte. Etwas nervös setzte ich mich zu ihr und begann das Gespräch: «Zuerst möchte ich mich für mein ungeduldiges Verhalten entschuldigen, welches ich an dem Tag gelegt hatte, als Sie den Test mit mir durchgeführt hatten. Aber verstehen Sie, ich hatte grosse Angst, dass etwas Schlimmes dabei rauskommen würde.»

«Wie geht es Ihnen heute?», fragte mich die Frau.

«Es geht mir nicht schlecht. Manchmal kann ich nicht sehr gut schlafen, und ich habe das Gefühl, dass seit meinem letzten Schub etwas nicht mehr richtig funktioniert in meinem Gehirn. Ich fühle mich nicht mehr als etwas funktionierendes Ganzes. Und ich habe grosse Angst.»

Die Dame lächelte mich herzerwärmend an und begann mit: «Frau Zünd, der Test ging wirklich lange und Sie haben sich gut geschlagen. Sie müssen sich keinesfalls entschuldigen. Es ist herausgekommen, dass ihre Sprache von der multiplen Sklerose nicht beeinträchtigt wird. Sie sind ein aufgeschlossener Mensch!»

Diese Worte bedeuteten mir so viel und dicke Freudentränen rollten über mein Gesicht.

«Es ist aber auch zu sehen, dass es gut wäre, wenn Sie Ihr Arbeitspensum anpassen würden. Die Konzentration lässt nach einer gewissen Zeit nach und Sie sollten sich mehr ausruhen. Daher empfehlen wir Ihnen dringend, zu Ihrer Entlastung eine IV-Anmeldung vorzunehmen.»

Sie lächelte mich noch immer verständnisvoll an und sagte mit ruhiger Stimme: «Das wird Ihnen helfen, entspannter zu arbeiten und mehr zu pausieren, um Kraft zu tanken.»

Diese Information rief in mir zum einen eine Art Erleichterung und Verständnis, zum anderen aber auch ein Gefühl der Ausbremsung und Ungewissheit auf. Gefühle, die schwer miteinander zu kombinieren sind.

Was würde nun als Nächstes mit mir passieren und wohin würde das führen?

Ich bekam eine Adresse einer Dame, die mir beim Ausfüllen der Formulare für die IV-Anmeldung helfen sollte.

Sie rief mich an, als ich bei der Arbeit war. In diesem Moment hatte ich noch mit niemandem über das Ganze gesprochen und wollte dies auch nicht. Wir verabredeten uns für einen Termin und ich sagte kurz: «Da ich jetzt bei der Arbeit bin, kann ich mich nicht länger mit Ihnen unterhalten, aber alles Weitere können wir ja am vereinbarten Termin besprechen.»

«Oh, Sie arbeiten also? Und Sie möchten sich für die IV anmelden? Wirklich!?»

Ich antwortete mit einem knappen Ja und beendete das Gespräch.

Wieder war mir zum Heulen zumute. Aber verdammt nochmal Lucile, reiss dich zusammen! Du kannst nicht immer und auf alles so reagieren und weinen, das bringt dich doch auch nicht weiter. Verschiedene Gedanken schossen mir durch den Kopf: Hatte die Dame eventuell recht? Wie sollte ich ihr «Oh, Sie arbeiten also?» deuten? Denkt sie vielleicht, dass ich faul bin und habe ich vielleicht gar kein Recht auf eine Anmeldung? Es gibt bestimmt Menschen, die sich in einer schlimmeren Lage befinden als ich und ich eiere hier schon wieder rum!

Aber ich schob die Gedanken beiseite bis zum vereinbarten Tag, an dem ich die Dame vom Telefonat besuchen sollte, um die IV-Anmeldung vorzunehmen.

Nervös und wie immer viel zu früh stand ich auf dem Perron des Bahnhofs, aber man weiss ja nie, was noch passieren kann. Deshalb bin ich tendenziell immer zu früh als zu spät.

Und prompt kam ein Anruf auf meinem Handy rein. Die Dame, mit der ich mich für heute verabredet hatte, rief mich an! Ich war so aufgeregt und mit der Angst als meine ständige Begleiterin schaffte ich es nicht, mit dem Finger mein Handy zu entsperren, um den Anruf anzunehmen. Da stand ich wieder total verzweifelt und den Tränen so nah.

Ich beschloss jedoch, die Dame gleich zurückzurufen: «Hallo? Frau Zünd? Ich habe soeben versucht Sie telefonisch zu erreichen! Wir hätten um 9 Uhr einen Termin zusammen, wo bleiben Sie denn?», ertönte es genervt aus meinem Telefon.

«Ich ähhh …» – ich bekam kein Wort heraus, Millisekunden ziehen vorbei und auf einmal kommt die Power zurück: «Ich bin auf dem Weg, denn wir hatten uns doch für 10 Uhr verabredet?!»

«Oh, dann ist mir bei der Terminvereinbarung wohl ein Fehler unterlaufen mit der Zeit. Dann kommen Sie doch noch vorbei.»

Ich erreichte mein Ziel und trat etwas sauer durch die Türe ins Gebäude ein. Ich ging die Treppe hoch und setzte mich im Wartebereich hin.

Auf einmal stand eine freundliche Dame vor mir und fragte mich ganz verdutzt: «Sind Sie Frau Zünd?» Ich nickte ihr zu und folgte ihr ins Büro. Sie stellte sich kurz vor und wollte nun von mir wissen, was mich herführe.

Für mich ist es jedes Mal eine Tortur, mich unbekannten Leuten so zu öffnen und solche intimen Informationen von mir preiszugeben. 

Schnell bemerkte ich den mitleidigen Blick der Frau, als ich von meiner Geschichte erzählte. Seit wie vielen Jahren ich mich MS lebte und wie es mir mit den ganzen Schüben ergehe. Ich sagte ihr auch, dass ich gerne meiner Arbeit nachgehen würde und dass dieser Schritt mit der Anmeldung für mich absolut nicht leicht sei. Weil ich weiterhin arbeiten möchte und müsse! Ich erzählte ihr auch von meinen Gefühlsstörungen in den Händen, mit welchen ich nun seit zwei Jahren lebte. Und dass ich deshalb manchmal mein Handy nicht bedienen könne, wenn ich dazu noch nervös sei – dann gehe gar nichts mehr.

«Ich wollte ihren Anruf entgegennehmen, aber ich habe es nicht geschafft.» Und jetzt begann ich bitterlich zu weinen und entschuldigte mich gleichzeitig für meinen Gefühlsausbruch und erklärte ihr, dass ich es manchmal satt hätte, dass ich mit einer Krankheit leben müsse, welche man mir nicht sofort ansehen oder die man nicht auf Anhieb erkennen würde. Wenn ich einen Arm oder ein Bein nicht mehr hätte, so wäre der Fall viel klarer! Aber ich müsse mich seit meiner Diagnose immer rechtfertigen und erklären! Ich wäre zwar dankbar, dass man mir nicht ansehe, wie es mir wirklich gehe, aber gleichzeitig sei es auch ein Fluch!

Ich ladete bei der Dame meinen ganzen Frust ab und es tat mir gut. Ich erzählte ihr einfach alles, was mir auf der Seele lag und verspürte bei meinem Gegenüber ein grosses Verständnis für meine Situation:

«Frau Zünd, ich möchte mich ebenfalls bei Ihnen entschuldigen. Wissen Sie, in meinem Beruf weiss man nie, wer zur Türe reinkommt. Es tut mir leid, dass Sie so viel durchmachen müssen.»

Gemeinsam füllten wir nun die Formulare aus und ich spürte dabei weiterhin ein grosses gegenseitiges Verständnis. Ja, es war sogar fast eine Sympathie. Am Schluss steckten wir das Formular in ein Couvert, und ich stand nun in der Türe, um mich für die Unterstützung und die Hilfe bei den Papieren zu bedanken.

Sie verabschiedete sich mit diesen Worten: «Bitte melden Sie sich doch zwischendurch bei mir, damit ich weiss, wie es mit der Anmeldung voranschreitet, und ausserdem interessiert mich Ihre Geschichte. Sie sind eine tolle junge Frau mit Mut!»

Da musste ich gehen, sonst würden die Tränen wieder kullern, und ich ging raus an die frische Luft. So stand ich nun im Regen mit dem Brief in der Hand. Einen kurzen Moment zögerte ich und haltete inne. «Lucile, wenn du das losschickst, hast du den Stempel! Für immer!» So plagte mich meine innere Stimme.

«Aber vielleicht ist es auch das Couvert, welches dir Erleichterung bringt und dank dem du dann etwas einfacher durchs Leben gehen darfst.» Ich liess den Brief durch den Briefkastenspalt gleiten und ging mit einem «Mal sehen, was kommt und was das Leben für mich bereit hält»-Gefühl los.

Ich habe bis heute noch nichts Konkretes von der IV erhalten, aber das ist auch klar, es gibt so viele Anmeldungen und Fälle. Ich lass den Dingen Zeit, warte jetzt einfach und schaue, was passiert. Ich möchte mich von diesem Schamgefühl in Bezug auf die IV-Anmeldung befreien.

Ich bin gut, so wie ich bin, lasse nun den Dingen ihren Lauf und schaue, was dabei herauskommt.

Herzlichst,