Inhaltsverzeichnis

Begreifen

SMA - was ist das?

Die spinale Muskelatrophie (SMA) ist eine seltene, fortschreitende und erblich bedingte Erkrankung, die zu Muskelschwäche und weiteren Symptomen in verschiedenen Organsystemen führt bzw. führen kann. Dies führt oft dazu, dass SMA-Betroffene bereits erlernte motorische Fähigkeiten wieder verlieren. Manche Betroffene sind daher auf einen Rollstuhl angewiesen oder müssen auch beatmet werden. SMA macht sich je nach Ausprägung bereits kurz nach der Geburt bemerkbar oder aber auch erst im Kindes- oder Erwachsenenalter. SMA zählt zu den seltenen Erkrankungen: Experten schätzen, dass etwa eines von 10’000 Neugeborenen betroffen ist.

Wie kommt es zur Muskelschwäche?

Bei der SMA erkranken die Nervenzellen im Rückenmark, sogenannte Motoneurone (s. Abb. 1). Diese Nervenzellen leiten Signale an Muskeln weiter, die für Bewegungen wie Sitzen, Stehen, Laufen, Greifen, Schreiben oder für die Kopfkontrolle sowie für Atmung und das Schlucken verantwortlich sind. Sterben diese Zellen, fehlen diese Signale. Dies führt zu Muskelschwäche (Muskelatrophie) und dadurch zu Bewegungseinschränkungen. Unter anderem kommt es auch zu weiteren Begleiterscheinungen wie z.B. den sogenannten Kontrakturen (Versteifungen und Bewegungseinschränkungen der Gelenke) oder Skoliose (Wirbelsäulenverkrümmung).

Abb. 1: Die spinale Muskelatrophie (SMA) ist eine neuromuskuläre Erkrankung. Bei der SMA kommt es zu einer Schädigung von Motoneuronen, weil ein wichtiger Nervenschutzfaktor (SMN-Protein) nicht oder nicht ausreichend gebildet wird. Motoneurone sind Nervenzellen, die Nervenfasern zu den Muskeln im ganzen Körper aussenden und Bewegungsimpulse aus dem Gehirn an die Muskulatur übertragen. Das 1. Motoneuron sitzt im Gehirn und ist mit seinen Nervenfasern mit dem 2. Motoneuron verbunden. Das 2. Motoneuron (Vorderhornzelle) liegt im Rückenmark und ist der eigentliche Impulsgeber für die Muskeln: Seine Nervenfasern führen z.B. zum Bizepsmuskel im Oberarm und können in diesem Muskel Bewegungen auslösen. Da bei SMA Motoneurone geschädigt werden und absterben, gelangen immer weniger Nervensignale in die Muskulatur. Es kommt zu Muskelschwäche und Bewegungseinschränkungen. Bewegungen wie Greifen oder Gehen können gar nicht erst erlernt werden oder werden zunehmend schwieriger.

Was ist die Ursache der SMA?

Die SMA ist eine Erbkrankheit. Zugrunde liegt ein Fehlen oder eine Veränderung des sogenannten SMN1-Gens im Erbgut (Mutation) auf dem Chromosom 5. Dieses Gen bildet den Bauplan für ein wichtiges Protein, das „Survival of Motor Neuron“ (SMN)-Protein.

Das SMN-Protein wird überall im Körper produziert und in unterschiedlichen Körperzellen gebraucht. Ganz besonders wichtig ist das SMN-Protein jedoch für die Funktion und das Überleben von Motoneuronen – daher wird es auch als Nervenschutzfaktor bezeichnet. Bei einem SMN-Mangel «erkranken» die Motoneurone und sterben schliesslich ab. Die Muskeln erhalten immer weniger Nervenimpulse und können nicht mehr korrekt funktionieren; sie werden schwächer und bilden sich zurück.

SMA ist durch einen Mangel an SMN-Protein bedingt. Ursache hierfür ist ein Fehlen (Deletion) oder eine Veränderung (Mutation) des SMN1-Gens.

Chromosomen sind Träger der Erbsubstanz, die im Zellkern der menschlichen Zelle liegen. Es handelt sich um lange Stränge aus DNA (engl. «desoxyribonucleic acid» – kurz DNA; deutsch «Desoxyribonukleinsäure» – kurz DNS), die zahlreiche Gene enthalten.

Ein Gen ist ein Träger von Erbinformation (ein DNA-Abschnitt), der z.B. den Bauplan für ein Protein enthält.

Als Mutation wird eine spontan auftretende, dauerhafte Veränderung des Erbgutes bezeichnet. Die Mutation kann in einzelnen oder mehreren Körperzellen auftreten oder aber auch in Ei- oder Samenzellen, wodurch sie auf die Nachkommen vererbt werden kann.

Eine Deletion ist ein Variante der Genmutation bzw. Chromosomenmutation, bei der ein Stückchen der DNA fehlt. Eine Deletion ist immer ein Verlust von genetischem Material.

Die meisten Gene werden von einer Art «Lesemaschine» (die RNA-Polymerase, auch selbst ein Protein) abgelesen und nach der Vorlage dieses Gens wird ein Stück RNA (engl. «ribonucleic acid» – kurz RNA; deutsch «Ribonukleinsäure» – kurz RNS) gebildet. Dieses Stück RNA wird noch bearbeitet, wobei einzelne Teilabschnitte, die sogenannten Introns, herausgeschnitten werden. So verbleiben am Ende des Schneideprozesses nur die RNA-Abschnitte, welche man als Exons bezeichnet. Diesen Vorgang nennt man «Splicen» (deutsch Spleissen). Am Ende des Splicens erhält man so ein ganzes RNA-Stück, das nur aus Exons besteht. Die frisch gekürzte RNA wird dann zu einer Art «Fabrik» gebracht – dem sogenannten Ribosom. Dort wird aus der RNA-Vorlage ein Protein hergestellt. Diesen Vorgang der Proteinproduktion nennt man «Proteinbiosynthese».

Proteine erfüllen im Körper zahlreiche Aufgaben: Sie dienen u.a. als Bau- und Betriebsstoffe, regulieren viele Stoffwechselreaktionen, wehren Infektionen ab oder transportieren Nährstoffe und Sauerstoff. Das SMN-Protein ist ein Schutzfaktor für Motoneuronen.

Die Rolle des SMN1-Gens und des SMN2-Gens

Neben dem SMN1-Gen haben die meisten Menschen auch das SMN2-Gen, welches auch SMN-Protein bildet. Fehlt das SMN1-Gen (deletiert) oder ist es verändert (mutiert), kann das SMN2-Gen „einspringen“. Allerdings bildet das SMN2-Gen überwiegend verkürztes, unvollständiges Protein und nur eine geringe Menge an funktionsfähigem SMN-Protein.

Da bei Menschen mit SMA das SMN1-Gen kein SMN-Protein bilden kann, hängt die Menge an SMN-Protein bei ihnen unter anderem auch davon ab, wie viele funktionsfähige Kopien des SMN2-Gens sie aufweisen: Je mehr SMN2-Genkopien SMA-Betroffene haben, desto mehr funktionstüchtiges SMN-Protein kann gebildet werden.

Obwohl mit einer höheren Kopienzahl des SMN2-Gens im Allgemeinen die Erkrankung langsamer oder weniger schwer verläuft, wird heutzutage eine Vorhersage des tatsächlichen Schweregrades der SMA rein auf Basis der SMN2-Kopienzahl nicht empfohlen, da es auch bei gleicher Kopienzahl Unterschiede im Schweregrad geben kann.

Abb.2: Nicht Betroffene Personen (links) haben ausser dem SMN1-Gen meist auch das SMN2-Gen, das ebenfalls SMN-Protein bildet. Allerdings bildet das SMN2-Gen überwiegend verkürztes, unvollständiges Protein und nur wenig funktionstüchtiges Protein. Bei SMA-Betroffenen (rechts) kann das SMN1-Gen kein Protein herstellen. Daher weisen SMA-Betroffene nur Protein auf, das von ihrem SMN2-Gen gebildet wird: der Grossteil dieses Proteins ist nicht funktionsfähig. Hinweis: Der Schritt zur RNA inklusive Splicen ist in der Grafik zur vereinfachten Darstellung weggelassen.

Was sind Genkopien?

In der Regel liegt jedes Gen des menschlichen Erbguts in zwei Kopien vor – eine stammt von der Mutter, die andere vom Vater. Einige Gene existieren jedoch nicht doppelt, sondern liegen gleich in mehrfachen Kopien vor (Gen-Duplikation).

Es kann vorteilhaft sein, mehrere Genkopien zu besitzen: SMA-Betroffene, die mehrere, funktionierende Kopien des SMN2-Gens haben, bilden eine grössere Menge an schützendem SMN-Protein und erkranken oft weniger schwer.

Wie wird die SMA vererbt?

Die SMA zählt zu den autosomal rezessiv vererbten Erkrankungen. Das bedeutet, dass nur Personen an SMA erkranken, die von der Mutter und vom Vater ein defektes SMN1-Gen geerbt haben. Eltern, die jeweils eine intakte und eine fehlerhafte SMN1-Genkopie in sich tragen, erkranken selbst nicht, sind aber Träger der Erbanlage für spinale Muskelatrophie.

  • Wenn ein Mann und eine Frau, die Träger des defekten SMN1-Gens sind, miteinander Nachkommen zeugen, besteht bei jeder Schwangerschaft ein statistisches Risiko von 25%, dass das Kind an SMA erkranken wird. Unabhängig davon also, ob die Eltern bereits ein betroffenes Kind haben, bleibt die Wahrscheinlichkeit bei jeder weiteren Schwangerschaft bei 25%. (s. Abb. 2a).
  • Ist ein Elternteil Träger des veränderten Gens, der andere aber nicht, Besteht bei jeder Schwangerschaft ein statistisches Risiko von 50%, dass das Kind ein verändertes SMN1-Gens erbt. Es erkrankt nicht an SMA, wird aber zum Träger des mutierten Gens (Abb. 2b).
  • Wenn ein Elternteil an SMA erkrankt ist, der andere jedoch kein defektes SMN1-Gen aufweist, werden alle Kinder ein defektes Gen erben und damit Träger des fehlerhaften Gens sein, jedoch nicht an SMA erkranken (Abb. 2c).
  • Falls ein Elternteil an SMA erkrankt und der andere Träger ist, besteht bei jeder Schwangerschaft ein statistisches Risiko von 50%, dass das Kind an SMA erkranken wird. Die statistische Wahrscheinlichkeit, dass es nur ein defektes SMN1-Gen aufweisen und Träger sein wird, beträgt ebenfalls 50% (Abb. 2d).
  • Wenn beide Eltern an SMA erkrankt sind, werden alle Kinder ebenfalls an SMA erkranken (Abb. 2e)

Studien zeigen, dass etwa eine von 50 Personen Träger der SMA-Erbanlage (SMN1-Gendefekt) ist. Die Träger wissen in der Regel nicht, dass sie das veränderte Gen in sich tragen und an ihre Kinder weitergeben können.

Besteht bei Eltern eines Kindes mit SMA ein weiterer Kinderwunsch, so kann eine humangenetische Beratung in Anspruch genommen werden. Hierbei werden die Eltern über die Möglichkeiten (z.B. Pränataldiagnostik) und etwaige Risiken informiert.

Inhaltsverzeichnis

Unterschiedliche SMA-Formen

Die spinale Muskelatrophie verläuft von Betroffenem zu Betroffenem sehr unterschiedlich. Daher ist SMA eine sogenannte «Spectrum Disease» (engl.; deutsch Spektrum-Erkrankung), bei der die Betroffenen ein breites Spektrum an Symptomen und Ausprägungen zeigen und die Krankheitsverläufe sehr unterschiedlich sind. Die Übergänge zwischen den verschiedenen SMA-Typen sind fliessend, und eine Vorhersage des Krankheitsverlaufs (Prognose) ist im Einzelfall allein aus der Typeinteilung nicht möglich. Einige Betroffene zeigen auch Symptome, die zwischen den beschriebenen Typen liegen. Daher wird die Behandlung der SMA-Betroffenen an den jeweiligen Funktionsstatus und die Symptome angepasst. Die Einteilung erfolgt also nach den aktuellen, tatsächlichen motorischen Fähigkeiten in Nicht-Sitzende (engl. non-sitters), Sitzende (engl. sitters) und Gehende (engl. walkers) (s. Tab. 1). Eine frühzeitigen Diagnosestellung sowie die Einhaltung der «International Standards of Care for SMA» (SOC, deutsch «Standards der Versorgung») und Webversion: https://smacare.guide/ (zuletzt besucht: 26.5.2021) sind wünschenswert, um Betroffene optimal betreuen und unterstützen zu können. Die «International Standards of Care for SMA» sind Leitlinien und listen sowie erklären die unterstützenden Therapiemöglichkeiten und Massnahmen (Physiotherapie, Rehabilitation etc.) bei SMA. Gedruckte Exemplare in deutscher Sprache können bei SMA Schweiz bestellt werden.

Aktuelle motorische Fähigkeiten Erklärung
Nicht-Sitzende (non-sitters) Selbständiges Sitzen nicht möglich
Sitzende (sitters) Freies Sitzen (nicht selbständiges Aufsitzen!) wird erlernt; gehen ohne Hilfe nicht möglich
Gehende (walkers) Freier Gang und Stand sind möglich

Tab. 1: Einteilung der spinalen Muskelatrophie (basierend auf den «International Standards of Care for SMA»)

SMA ist eine sogenannte „Spectrum Disease“. Die Ausprägung und der Krankheitsverlauf sind sehr individuell, wobei sehr schwer betroffene Kleinkinder ohne Therapie oft nur knapp das zweite Lebensjahr erreichen. Am anderen Ende des Spektrums stehen Betroffene, bei denen die Krankheit erst im Erwachsenenalter diagnostiziert wird.

Bisher wurden bei SMA traditionell drei bzw. vier Typen unterschieden – je nach Lebensalter bei Beginn der Erkrankung und nach den erreichten motorischen Funktionen bei Diagnosestellung (s. Tab. 2). Diese Einteilung gibt aber keine Information über die aktuellen, tatsächlichen motorischen Fähigkeiten und mögliche damit verbundene Einschränkungen der Betroffenen. In etwa 60% der Fälle liegt eine SMA Typ I vor. Der Beginn einer SMA im Erwachsenenalter (Typ IV) ist wesentlich seltener als die anderen Formen (nicht in Tab. 2 beschrieben). Zusätzlich gibt es eine weitere SMA-Form (Typ 0), die schon im Mutterleib beginnt, sehr schwer verläuft und meist vor dem sechsten Lebensmonat tödlich endet, manchmal bereits im Mutterleib.
SMA Beste je erreichte Funktion Alter bei Erkrankungsbeginn Typische klinische Befunde
Typ I WerdnigHoffmann Sitzen niemals möglich 0-6 Monate Schwere Hypotonie und Muskelschwäche, kraftloses Schreien und Husten, Schluckschwierigkeiten - auch des eigenen Speichels, früher Tod durch Ateminsuffizienz und Aspirationspneumonie
Typ II
intermediäre SMA
Sitzen möglich, Stehen niemals möglich 7-18 Monate Verzögerte motorische Entwicklung, feinschlägiger Handtremor, schwacher Hustenstoss, Gelenkkontrakturen und Skoliose
Typ III
KugelbergWelander
Stehen und Laufen möglich > 18 Monate Muskelschwäche verschieden stark ausgeprägt, häufig Krämpfe der Muskulatur, Überbeanspruchung der Gelenke, Verlust der Gehfähigkeit im Verlauf der Erkrankung

Tab. 2: Einteilung der spinalen Muskelatrophie in 3 Typen (seltenere SMA-Typen 0 und IV sind nicht beschrieben) – natürlicher Verlauf, ohne Therapie

Welche Muskeln sind beteiligt?

SMA beeinträchtigt unterschiedliche Muskeln unterschiedlich stark. Im Allgemeinen ist die Muskelschwäche symmetrisch (d.h. die linke und die rechte Körperseite sind gleichermassen betroffen), wobei die rumpfnahen (proximalen) Muskeln am stärksten betroffen sind – insbesondere die Hüft-, Rücken- und Schultermuskulatur. Meist ist die Muskelschwäche in den Beinen ausgeprägter als in den Armen. Auch die Kau- und Schluckmuskulatur kann in Mitleidenschaft gezogen sein. Sehr häufig ist die Atemmuskulatur auch geschwächt.

Im Verlauf der Erkrankung nimmt die Muskelkraft stetig ab. Das kann beispielsweise im Rahmen eines Wachstumsschubs bei Kindern recht schnell geschehen oder sich langsam entwickeln.

SMA betrifft den ganzen Körper

SMA wirkt sich nicht nur auf die Skelettmuskulatur aus. Ausser der zunehmend eingeschränkten Mobilität können Menschen mit SMA weitere Begleiterscheinungen entwickeln, beispielsweise:

  • Probleme beim Schlucken und Essen
  • Schwäche der Atemmuskulatur und Schwierigkeiten beim Abhusten, was zu einer erhöhten Anfälligkeit für Lungenentzündungen und zu weiteren Atemwegsproblemen führen kann. Einfache Atemwegsinfekte können schnell zu Notfallsituationen führen.
  • Skoliose (Wirbelsäulenverkrümmung) und Verformungen der Knochen
  • Hüftinstabilität
  • Kontrakturen (Versteifung und Bewegungseinschränkung) der Gelenke und Muskeln
  • Magen-Darm-Probleme: z.B. Reflux (Rückfluss des säurehaltigen Mageninhalts in die Speiseröhre), Verstopfung durch mangelnde Darmbewegung
  • Fatigue, erhöhte Ermüdbarkeit
  • Verminderte Knochendichte, Neigung zu Knochenbrüchen
Zusammenfassung
Die spinale Muskelatrophie (SMA) ist eine seltene, genetisch bedingte Erkrankung, die zu Muskelschwäche und je nach Ausprägung zu anderen Beschwerden wie z.B. Atemproblemen bis hin zum Atemversagen führen kann. Je nach SMA-Betroffenem kann dabei die Fähigkeit zu sitzen, zu stehen oder zu gehen stark eingeschränkt sein, nie erlernt werden oder auch beim Fortschreiten der SMA wieder verloren gehen. Dies hat für die Selbständigkeit und Mobilität im Alltag der Menschen mit SMA unterschiedliche Auswirkungen bis hin zu einem Leben im Rollstuhl mit weiteren Begleitsymptomen (wie z.B. Atembeschwerden, Skoliose (Wirbelsäulenverkrümmung), Kontrakturen (Gelenksversteifungen) etc.).