Die Verlaufsformen der MS

Die Neurologin Dr. Andrea Tasalan-Skupin hat sich bereits in ihrem ersten Studium – Linguistik – intensiv mit Sprachstörungsforschung befasst. Die Materie faszinierte sie und so entschied sie sich, nach ihrem Abschluss ein weiteres Studium – Medizin – zu absolvieren. Und sie blieb der Thematik treu und wurde Neurologin. Im Gespräch mit Anne Rüffer erläutert sie die unterschiedlichen Verlaufsformen der MS.

1. Welche MS-Verlaufsformen gibt es? Können Sie kurz die Unterschiede erklären?

Es gibt verschiedene Verlaufsformen bei der MS. Die häufigste, die auch fast jeder Laie kennt, ist die schubförmige MS (RRMS). Das heisst, die Krankheit beginnt mit Schüben, die in verschiedenen Zeitabständen aufeinander folgen. Dabei treten motorische und geistige Störungen auf, die mindestens 48 Stunden anhalten. In dieser Verlaufsform gibt es Untergruppen: Nach manchen Schüben ist man vollständig wiederhergestellt. Andere Schübe führen dazu, dass sich manche Symptome nicht vollständig zurückbilden, und die Einschränkungen von Schub zu Schub zunehmen.

Etwas seltener ist die primär progrediente Verlaufsform (PPMS). Die erkennt man lange Zeit nicht, weil die Patienten häufig unspezifische Symptome aufweisen, insbesondere keine Schübe. Meistens sind es Gangstörungen: Diese Patienten entwickeln ein spastisches Gangbild, eine Steifigkeit der Muskeln oder die Gelenkbeweglichkeit im Bereich der Beine verursacht Schwierigkeiten. Noch seltener ist die Gruppe der Patienten, die eine Entzündung im Kleinhirn haben.

Man kann sagen, dass die PPMS etwa zu 20 Prozent und die schubförmige zu 80 Prozent auftritt. Bei beiden Formen sind grundsätzlich mehr Frauen als Männer betroffen.

2. Können Sie kurz die typischen Symptome schubförmiger MS-Verlaufsformen skizzieren?

Je nach Befall – entweder im Gehirn oder im Rückenmark – sind die Symptome unterschiedlich und sehr vielfältig. Das macht das Ganze so schwierig. Manche meiner Kollegen sagen, alles kann ein Schub sein: Es können Schwindel-Symptome, Augenbewegungs- wie auch Sehstörungen, Koordinations- und Feinmotorikstörungen oder vorübergehende Spastiken in Armen oder Beinen sein.

Häufig ist das erste Symptom einer schubförmigen MS eine Sehstörung: der Patient sieht plötzlich nichts mehr und der Augenarzt kann keine Ursache finden. Das ist die klassische Konstellation, die den Patienten zum Neurologen und damit zur Abklärung führt. Dort entdeckt man dann die Entzündung des Sehnervs. 

3. Welche Symptome sind für eine PPMS charakteristisch?

Diese Patienten entwickeln in der Regel schleichend eine Gangstörung: der Gang ist spastisch, teilweise werden die Beine steif, man hat kein flüssiges, lässiges Gangbild mehr. Kleinhirn-Symptome zeigen sich durch Koordinationsstörungen, durch Gleichgewichtsstörungen, durch Gang-Stand-Störungen und eine Beeinträchtigung der Augenbeweglichkeit. 

Anne Rüffer und Dr. Andrea Tasalan-Skupin

4. Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es für die verschiedenen Verlaufsformen?

Für die klassische schubförmige Form gab es lange immunmodulatorische Medikamente. Entweder gehörte man zu denen, bei denen diese wirkten oder man hatte Pech, weil sie nicht wirkten, und die Schübe traten weiter auf. Akut kann man mit Cortison behandeln, mit Steroiden; dann kamen Medikamente aus der Krebsbehandlung hinzu, die aber zum Teil erhebliche Nebenwirkungen aufwiesen.

Wichtig zu erwähnen sind auch nicht-medikamentöse Therapien wie Physio- und Ergotherapie. Diese können allen Patienten – unabhängig von der Verlaufsform – helfen, lange selbstständig zu bleiben.

5. Warum unterscheiden sich die Therapieansätze – was ist der Hintergrund?

Man hat festgestellt, dass die Medikamente, die bei der schubförmigen Verlaufsform helfen, nicht bei der progredienten MS wirken. Warum das so ist, ist noch nicht abschliessend geklärt. Man geht davon aus, dass die Funktion der Blut-Hirn-Schranke hier eine wesentliche Rolle spielt. Die Blut-Hirn-Schranke regelt den Austausch von Stoffen zwischen dem Blut und dem zentralen Nervensystem und verhindert normalerweise das Einwandern von Immunzellen. Bei der schubförmigen MS ist diese Blut-Hirn-Schranke gestört: Immunzellen können ins zentrale Nervensystem einwandern und hier die typischen Entzündungen, die Herde, auslösen. Bei der progredienten Form geht man davon aus, dass die Blut-Hirn-Schranke mehr oder weniger intakt ist und im zentralen Nervensystem vorhandene Immunzellen die Entzündung verursachen. Die Entzündung findet also hinter einer intakten Blut-Hirn-Schranke statt. Das könnte ein Grund sein, warum diese Form sich schlecht behandeln lässt. Denn die meisten Medikamente können eine intakte Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden.