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Begreifen

Was ist Hämophilie?

Hämophilie ist eine genetisch bedingte Blutungsstörung, die auch als Bluterkrankheit bezeichnet werden kann. Das Wort „Hämophilie“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet Blutungsneigung. Das Krankheitsbild zeichnet sich dadurch aus, dass die Blutungsgerinnung gestört ist. Bei allen vererbbaren Formen der Hämophilie bilden die Patienten aufgrund einer genetischen Veränderung nicht alle für die Gerinnung nötigen Bestandteile. Deswegen gerinnt das Blut entweder sehr langsam oder gar nicht.

Gerinnung –
so funktioniert sie

Wenn wir uns verletzen, beginnt normalerweise sofort der Gerinnungsprozess in unserem Blut. Dabei beginnt der Köper mit der Blutstillung: Das zur Verletzung hinführende Blutgefäss verengt sich, damit weniger Blut zur Wunde fliesst. Gleichzeitig heften sich sogenannte Blutplättchen an die Wunde, verkleben untereinander und bilden so einen Wundverschluss.

Dieser erste Wundverschluss ist noch lose und muss durch Fibrinfäden verstärkt werden. Damit diese Verstärkung aktiviert wird, muss zuerst die sogenannte Gerinnungskaskade aktiviert werden. Hierbei aktivieren sich sogenannte Gerinnungsfaktoren, die Bestandteil des Blutplasmas sind, gegenseitig. Allerdings funktioniert dies nur in einer bestimmten Reihenfolge: Der nächste Faktor kann immer nur von seinem Vorgänger aktiviert werden. Fällt einer der Faktoren aus oder ist weniger vorhanden, wie zum Beispiel der Faktor VIII (Faktor 8) bei Hämophilie A, wird der nächste nicht aktiviert. Damit endet die Gerinnungskaskade an diesem Punkt – die Wunde wird nicht durch Fibrin verschlossen, die Blutung stoppt nicht.

Im folgenden Video ist die Gerinnungskaskade noch einmal anschaulich erklärt:

Hämophilie und andere
Formen der Blutgerinnungs­störung

Je nachdem welcher der Gerinnungsfaktoren von der Störung betroffen ist, unterscheidet man unterschiedliche Formen der Blutgerinnungserkrankung:

  • Hämophilie A:
    Bei Hämophilie A ist die Aktivität des Gerinnungsfaktors VIII stark verringert oder gänzlich fehlend. Weltweit sind ca. 320‘000 Menschen von Hämophilie A betroffen.
  • Hämophilie B:
    Bei Hämophilie B wird der Gerinnungsfaktor IX nur sehr eingeschränkt oder gar nicht gebildet. Diese Blutgerinnungsstörung tritt seltener auf als Hämophilie A. Weltweit sind etwa 30‘000 Patienten davon betroffen.

Die Häufigkeit von Hämophilie

Von Hämophilie A sind weitaus mehr Menschen betroffen als von Hämophilie B.
Bei beiden Formen der Blutgerinnungsstörung tritt die Erkrankung vor allem bei Männern auf.

Es gibt auch andere Gerinnungsstörungen, die nicht zu den klassischen Hämophilie-Erkrankungen zählen:

  • Von-Willebrand-Syndrom (VWF): Das Von-Willebrand-Syndrom ist die häufigste Gerinnungsstörung und betrifft Männer wie auch Frauen. Bei dieser Erkrankung ist ein Gerinnungseiweiss, der sogenannte Von-Willebrand-Faktor, fehlend oder defekt ausgebildet. Die Aufgabe eines funktionsfähigen Faktors besteht darin eine Art Brücke zwischen der verletzten Stelle und den Blutplättchen zu bilden und somit die Blutung zu stoppen.
  • Die folgenden Gerinnungsfaktor-Mängel sind sehr selten. Weniger als einer von 300‘000-1‘000‘000 Menschen sind jeweils von diesen seltenen Erkrankungen betroffen. Folgende Faktoren können betroffen sein:
     
    • Faktor I: Fibrinmangel
    • Faktor II: Prothrombinmangel
    • Faktor V: Parahämophilie
    • Faktor VII: Alexander Krankheit
    • Faktor X: Stuart-Power-Faktor-Mangel
    • Faktor XI: Hämophilie C
    • Faktor XII: Hagemann-Faktor-Mangel
    • Faktor XIII: Fibrinstabilisierender-Faktor-Mangel

Schweregrade der
Hämophilie A

Hämophilie lässt sich in unterschiedliche Schweregrade einteilen, je nachdem wie stark die Aktivität des Faktors im Vergleich zu gesunden Menschen verringert ist. Die Faktor VIII Aktivität eines gesunden Menschen dient als Basiswert: Man geht davon aus, dass diese im Idealfall bei 100 Prozent liegt, und berechnet dann die Restaktivität der Gerinnungsfaktoren von Hämophilie-Patienten in Prozent. Je geringer die Restaktivität ist, umso langsamer gerinnt das Blut und umso stärker sind die Symptome ausgeprägt. Der Schweregrad der Hämophilie entscheidet über die Behandlung.

SCHWEREGRAD DER HÄMOPHILIE GERINNUNGSFAKTOR-RESTAKTIVITÄT SYMPTOME
Normale Aktivität 50 – 100 % Keine
Milde Hämophilie 5 – 15 % Leicht erhöhte Neigung zu Hämatomen
Mittelschwere Hämophilie 1 – 5 % Grosse Hämatome nach leichten Verletzungen
Schwere Hämophilie Weniger als 1 % Spontane Blutungen

Vererbung der angeborenen Hämophilie

Da Hämophilie zu den vererbbaren Erkrankungen gehört, lässt sich die Wahrscheinlichkeit berechnen, mit der Kinder betroffener Eltern erkranken. Dazu ist es wichtig zu wissen, dass alle wichtigen genetischen Informationen, die von den Eltern an die Kinder weitergegeben werden auf 46 Chromosomen gespeichert sind. 22 der Chromosomen; sind doppelt vorhanden (somit total 44), die restlichen zwei sind die Geschlechtschromosomen: das X- und das Y-Chromosom. Frauen besitzen zwei unterschiedliche X-Chromosomen, Männer ein X- und ein Y-Chromosom. Die Informationen über die Bildung der Gerinnungsfaktoren liegen auf dem X-Chromosom. Wird diese Information nun verändert, fehlt dem Körper der „Bauplan“ für die Faktoren und es kommt zur Hämophilie – zumindest bei Männern, da diese nur ein X-Chromosom besitzen. Bei Frauen ist diese Information auch auf dem zweiten, nicht veränderten X-Chromosom vorhanden. So kann der Fehler auf dem ersten Chromosom ausgeglichen werden. Darum kommt es bei Frauen fast nie zu einer Hämophilie. Allerdings können so genannte Trägerinnen
das veränderte Erbgut an ihre Kinder weitergeben. Es ist aber auch möglich, dass die Veränderung des Erbgutes noch nicht bei den Eltern vorlag, sondern spontan im Erbgut passiert. Etwa ein Drittel der Hämophilie-Erkrankungen ist auf spontane Veränderung des Erbgutes zurückzuführen.

Spontan erworbene Hämophilie

Selten kann ein vorher gesunder Mensch eine Blutungskrankheit erwerben. Dies geschieht im Rahmen von Fehlsteuerungen des Immunsystems. Anders als bei der angeborenen Hämophilie sind hier sowohl Männer als auch Frauen im fortgeschrittenen Alter betroffen. Charakteristisch für dieses Krankheitsbild sind ausgeprägte Einblutungen in Haut und Muskeln.

Das eigene Immunsystem reagiert falsch gegen körpereigene Stoffe und erkennt diese plötzlich als fremd an, wie zum Beispiel gegen den Gerinnungsfaktor FVIII, seltener gegen Gerinnungsfaktor FIX. Die fehlgeleitete Immunreaktion führt zur Bildung von Abwehrstoffen, die Antikörper genannt werden – diese dienen eigentlich der Abwehr körperfremder Eindringlinge wie Bakterien, Viren oder Pilze. Die Antikörper besetzen Oberflächenstrukturen des Gerinnungsfaktors, und machen ihn dadurch unwirksam, weniger wirksam, oder führen zu einem massiv beschleunigten Abbau. Solche fehlgeleiteten Immunreaktionen können im Rahmen von Autoimmunerkrankungen auftreten, oder bei bestimmten bösartigen Erkrankungen. In etwa der Hälfte aller Fälle kann keine genaue Ursache gefunden werden.

Patientenorganisationen

Egal ob man schon lange mit der Blutgerinnungsstörung lebt, einen Angehörigen oder ein Kind mit Hämophilie hat – sich mit anderen zu vernetzen und auszutauschen tut gut und bestärkt. Organisationen und Selbsthilfegruppen bieten die Möglichkeit, einfach mit anderen Hämophilen Kontakte zu knüpfen oder sich über die Hämophilie zu informieren. Die Schweizerische Hämophilie-Gesellschaft (SHG) ist eine Patientenorganisation für Menschen mit Blutgerinnungsstörungen. Sie setzt sich für Betroffene und Angehörige ein. Die Interessensgemeinschaft Hämophiler e.V. (IGH e. V.) möchte für eine optimale Behandlungsstruktur sorgen. Daneben vermittelt die IGH Wissen rund um Hämophilie auf ihrer Webseite und in Online-Seminaren.

Geschichte der Hämophilie

Erste Aufzeichnungen über Hämophilie finden sich bereits aus dem 2. Jahrhundert vor Christus. Die Erkrankung ist auch als die „Krankheit der Könige“ bekannt, denn es gab vermehrt Fälle von Hämophilie in den europäischen Königshäusern. Die englische Königin Viktoria vererbte das „Hämophilie-Gen“ an ihren Sohn und zwei ihrer Töchter. Ihr Sohn, Prinz Leopold, starb aufgrund der Hämophilie mit 31 Jahren an einer Kopfverletzung. Die Töchter gaben das Gen ebenfalls an ihre Kinder weiter, sodass die Krankheit auch in andere Königshäuser Einzug hielt. Einer ihrer Urenkel, der gleichzeitig der Sohn des Zaren Nicolaus II. von Russland war, erkrankte ebenfalls an Hämophilie. Deshalb wurde er sein Leben lang von einem Leibwächter vor Verletzungen geschützt.

Die Diagnose Hämophilie wird meist schon im Kindesalter gestellt. Sie betrifft daher nicht nur den Alltag der Betroffenen, sondern auch im hohen Masse das Leben der Angehörigen. Die Erkrankung verändert viele Lebensbereiche und kann oft eine Herausforderung darstellen. 

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Geschichte der Therapien

Vor rund 100 Jahren gab es für Menschen mit Hämophilie noch keine Therapieoptionen, weshalb viele Betroffene schon im Kindesalter an der Krankheit verstarben. Doch durch Fortschritte in der Forschung folgten auch Fortschritte in der Hämophilie-Behandlung.

Ende des 19. Jahrhunderts entdeckten Wissenschaftler, dass bei Hämophilie die Gerinnungsfähigkeit des Blutes gestört ist. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts wurde bekannt, dass die Blutungsneigung auf dem Fehlen eines sogenannten „antihämophilen Faktors“ beruht. Dieser wurde Ende der 1950er Jahre in den Faktor VIII umbenannt. Zuvor hatten Wissenschaftler entdeckt, dass es zwei Formen der Hämophilie gibt, bei denen unterschiedliche Gerinnungsfaktoren fehlen: Bei Hämophilie A fehlt der Gerinnungsfaktor VIII und bei Hämophilie B fehlt der Gerinnungsfaktor IX. Auf der Grundlage dieses Wissens behandelte man Hämophilie bei akuten Blutungen mit einem Eiweissgemisch aus menschlichem Blutplasma, der Cohn-Fraktion. Wenige Jahre später stiessen Wissenschaftler darauf, dass die Behandlung nicht erst bei Blutungen eingesetzt werden kann: Die regelmässige Verabreichung des Faktors beugt Blutungen sogar vor. Eine neue Methode ermöglichte es schliesslich, ein Faktorkonzentrat aus menschlichem Blutplasma herzustellen. Dieses Konzentrat war die Grundlage für das erste Faktor-VIII-Medikament. Auch das Faktormedikament kann vorbeugend eingesetzt werden. Fünf Jahre später etablierte sich die Heimselbstbehandlung: Betroffene müssen seither zur Verabreichung des Medikamentes nicht mehr ins Spital und können sich das Medikament zu Hause selbstständig verabreichen.

Doch Ende der 1980er Jahre wird deutlich, dass weitere Forschung zu Hämophilie-Behandlung nötig ist. Die aus menschlichem Blutplasma hergestellten Faktorpräparate können auch Krankheitserreger übertragen. Viele Hämophilie-Patienten wurden durch das Faktormedikament mit Hepatitis B und C sowie HIV infiziert. Um die Behandlungssicherheit zu erhöhen, inaktiviert man Krankheitserreger seitdem durch Erhitzen. Zusätzlich werden die Plasmapräparate gründlicher aufgereinigt und sensitive Methoden zur Virusidentifizierung kommen zum Einsatz.

Gen für die Faktor-VIII-Bildung entdeckt

Das menschliche Gen, das die Informationen für die Bildung des Faktors VIII enthält, entdecken Forscher im Jahr 1984. Dadurch ist es möglich, sogenannte rekombinante Faktorpräparate zu entwickeln. Diese werden nicht aus menschlichem Blut, sondern biotechnologisch unter Nutzung von Zellkulturen, hergestellt. 1987 wird der rekombinante Faktor VIII erstmals in den USA bei Hämophilie-Patienten eingesetzt. Die neuen Faktorprodukte benötigen allerdings den Zusatz von Eiweissen aus menschlichem oder tierischem Plasma als Stabilisatoren. Seit 2004 sind Faktor-VIII-Präparate ohne Zusätze menschlicher und tierischer Eiweisse in der Schweiz erhältlich. In den 2010er Jahren gelang es, die Halbwertszeit der Faktor-VIII- und Faktor-IX-Präparate zu verlängern. Dadurch wirkt der Schutz vor Blutungen länger, weshalb weniger oft nachgespritzt werden muss.

Prophylaktische Behandlung mittels Antikörper

Seit 2019 steht ein subkutanes Präparat zur prophylaktischen Behandlung von schwerer Hämophilie A zur Verfügung. Ein biotechnisch hergestellter, bispezifischer Antikörper übernimmt im Körper die Funktion des fehlenden oder in zu geringen Mengen vorhandenen Faktors VIII und beschleunigt so die Blutgerinnung. Das Präparat wird direkt unter die Haut gespritzt (subkutan).

Gentherapie: Therapie der Zukunft?

Hoffnung wird auch in die Gentherapie gesetzt. Unschädlich gemachte Viren transportieren ein intaktes Gen für den Faktor VIII (Hämophilie A) oder den Faktor IX (Hämophilie B) in die Leber. Die Leber produziert daraufhin wieder selber funktionstüchtige Gerinnungsfaktoren. Weltweit laufen Studien zur Wirksamkeit der Gentherapie, in der Schweiz ist sie noch nicht zugelassen.